Das Meer der Griechen

An der Ägäis Seit zwei Stunden stehen wir am Hafenkai in Heraklion (Kreta) und warten auf unser Schiff, das uns nach Santorin bringen soll; und mit uns warten fünfunddreißig bis vierzig weitere Passagiere, zumeist Rucksacktouristen. Man isst, man liest, man döst träge in der Sonne; wer die Inseln besuchen will, muss Zeit haben. Verspätungen der Schiffe sind in der Ägäis an der Tagesordnung.

Endlich taucht am Horizont ein Punkt auf, der nur langsam größer wird. Mit zweieinhalb Stunden Verspätung legt die "Ios" am Kai an. Die ersten, die das Schiff verlassen, sind einige junge Engländer. "It was terrible! It was terrible!"

Was soll an einer Seefahrt bei dem herrlichen Wetter schon so schrecklich sein? Im Nu ist das Schiff bestiegen, die Haltetaue werden gelöst, und ab geht es nach Norden, Richtung Santorin!

Schon nach knapp zehn Minuten, die "Ios" hat das Hafenbecken kaum verlassen, wird es ungemütlich. Eine steife Brise kommt von vorn; es ist der Meltemi, der Nordwind, der oft tagelang die See aufwühlt. Das Boot tanzt auf den Wellen, rauf, runter; Gischt schäumt über das Deck. Schon sind die meisten Passagiere bis auf die Haut nass. Die ersten werden seekrank und opfern Poseidon, dem Gott des Meeres .....

Endlich, nach sieben Stunden Fahrt - eigentlich sollten es nur vier Stunden sein - stampft die "Ios" in den Krater von Santorin.

Erschöpft, nass, blass im Gesicht, auf wackeligen Beinen stehend, werden wir ausgebootet.
Wenn der Meltemi bläst, und er bläst oft, ist selbst im Sommer, bei strahlend blauem Himmel, die Ägäis ein raues und stürmisches Meer.

Und so stürmisch wie das Meer war auch die Geschichte, die sich hier ereignet hat, von mythologischer Vorzeit an bis heute.

Mythen sind keine Legenden, keine Märchen, sondern dichterisch gestaltete Wirklichkeit. Die Ägäis mit ihren Inseln ist umrankt von Mythen. So ist auch der Name "Ägäis" mythischen Ursprungs.

Geschichte


Der Mythos führt uns nach Kreta, dorthin, wo einst die "Wiege Europas" stand. Hier lebte in einem Labyrinth, das König Minos von Daidalos hatte bauen lassen, der Minotaurus, ein Wesen mit Menschenkörper und Stierkopf.

Als der Sohn des Minos, Androgeos, in Attika getötet worden war, musste Athen als Sühne jedes Jahr sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen schicken, die dem Minotaurus geopfert wurden. Da erbot sich Theseus, der Sohn des Königs Ägeus von Athen, mit nach Kreta zu segeln, um die Heimat von der schrecklichen Pflicht zu befreien oder selbst zu sterben.

Theseus hatte Glück. Ariadne, die Tochter des Minos, verliebte sich in ihn. Gegen ein Heiratsversprechen gab sie ihm ein Wollknäuel, den "Ariadnefaden", mit in das Labyrinth. Dort tötete Theseus den Minotaurus, und mit Hilfe des Fadens fand er aus dem Labyrinth wieder heraus. Er nahm die Königstochter mit auf sein Schiff. Als sie sich auf der Insel Naxos ausruhten, verließ er die Schlafende. Zum Glück erbarmte sich Dionysos der verlassenen Königstochter, und dabei machte Ariadne keinen schlechten Tausch; sie wurde seine Gattin.

Theseus segelte inzwischen weiter nach Athen. Doch die Strafe folgte bald, allerdings traf sie den Unschuldigen. Mit seinem Vater Ägeus hatte Theseus vereinbart, dass das Schiff weiße Segel setzen werde, wenn das Abenteuer erfolgreich wäre, und schwarze bei unglücklichem Ausgang. Ein Sturm zerriss das weiße Segel. Beobachter meldeten dem König, das Schiff trage schwarze Segel. Aus Kummer über den tot geglaubten Sohn stürzte sich der Vater ins Meer. Nach ihm, Ägeus, wurde das Meer benannt und heißt bis heute Ägäis.

Die Ägäis - Küste des Lichts

"Es sind die Küsten des Lichts, an denen Europa zum Leben erwacht ist. Als der Mythos zu verklingen begann, wurde die Aegaeis zum Meer der Geschichte. Über die Inseln, die blühenden, zogen die Zeiten dahin. Helden und Kaufleute, Feldherren und Gelehrte, Seeräuber und Sänger, Matrosen, Pilger, Abenteurer, Apostel und Verbannte sind von Hafen zu Hafen gesegelt seit den ältesten Zeiten. Jason fuhr mit der Argo durch die Dardanellen ins Schwarze Meer. Agamemnon setzte mit dem Heer der Achaier von Aulis nach Troia über. Odysseus wurde weit umhergetrieben in diesem Wasser. Die Flotte der Perser und der Griechen haben die See zwischen Hellas und Ionien gekreuzt. Für Themistokles, für Pompeius, für Caesar, für Johannes und Paulus haben die Schiffskapitäne ihre Kurse nach den Inseln abgesteckt. Alexander, Rom, das Goldene Byzanz, Araber, Wikinger und Kreuzfahrer haben an diesen Küsten geherrscht. Weltreiche und Weltreligionen sind von Osten nach Westen, von Westen nach Osten über die Aegaeis dahingegangen. Dieses alte Wasser ist ein Meer großer Historie." (Peter Bamm: An den Küsten des Lichts)

Wer würde vermuten, wenn er an einem der schönen Inselstrände liegt und Sonne und Wasser genießt, dass er in so einem geschichtsträchtigen Meer badet?