Mersche war – wer weiß es – die Schwester des Großbauern in der Bauernschaft Tilbeck am Fuße der Baumberge des Münsterlandes. Maria hieß sie, vielleicht deshalb Mersche gerufen, oder: sie war ja vom Meierhof, deshalb „Mersche“ („Meiersche“). Ein einprägsamer, ungewöhnlicher, einzigartiger Name. Sie bewohnte zwei Stuben auf dem stattlichen Hofe, ein kleines Vorzimmer, eine größere Schlafstube. Im Winter setzte sich der Frost auf ihr Oberbett, kleine Eisplättchen in den kalten Nächten. Die Mäuse tummelten unter ihrem Bett im Sommer. Sie war die Seele des Hofes, nähte, strickte, flickte, kochte und backte die schmackhaftesten Pfannekuchen der Baumberge. Die Verpflichtungen für den Hof ließ sie unverheiratet. Natürlich, in einer Bauerschaft kennt jeder jeden, und jeder wußte, daß sie allen Durchziehenden mit Speisen und  guten Worten zur Seite stand. Sie war für das Wohle aller. Tante Mersche, das war sie für die vielen Kinder der Bauern und Kötter, denen sie die schönsten Geschichten erzählte. Das Gute, das war ihre Maxime. Weniger als dreihundert Jahre zuvor verkündete hier Luidger in den Baumbergen das junge Christentum. Der friedliche Mann wurde ihr Vorbild. So die vermutete kurze Biographie einer Frau des Münsterlandes bis hin zu ihrem Todestag im April 1164. Da geschah dieses:

Am Sonntagmorgen, kurz nach Fünf, brach sie auf zur Frühmesse in St. Bonifatius nach Schapdetten. Die romanische Kirche, vor allem der Stufenturm, zeichneten sich in das leichte Licht. Die neue Kirche gefiel ihr, vor allem zu dieser Zeit. Gegen die atmospärische Stille krähten die Hähne. Sonntag, der Tag des Herrn. Es würde ein beschaulicher Tag des Dankes werden. Weit vor dem Hochamt um Zehn war sie schon wieder auf dem häuslichen Wege mit einem kurzen Umweg in diese kleinen Schluchten der östlichen Flanke des sich bis über 180 Meter erhebenden Bergrückens. Sie suchte und erntete noch große Flächen des Bärlauchs, der ab Mai keine Verwendung in den großen Töpfen der Küche finden darf. Diesen brachte sie Magdalena, die das Sonntagsmahl für Bauer, Frau, Kinder und Gesinde (wie es leider früher genannt wurde) bereitete. Nach dem Mahle rief der Bauer: „Nach harter Woche Arbeit: geht in Adams Schänke und trinkt leichtes Bier!“ Mit großem Willkommen und ihr gewidmeten Ständchen suchte auch Mersche einen Platz auf einem Baumstumpf, der in dieser Variation vielen als Sitz diente. Das leichte Bier aus Adams Eigenbräu gefiel ihr. Das Leben ist schön, der Mensch ist gut! Das sang sie, und eine Leichtigkeit umgab sie – als würde sie fliegen und das Münsterland verlassen. Sie wußte: das ist nicht der Bräu!. „Bis nächsten Sonntag, gute Mersche“, rief Adam. Sie entnahm ihrem bestens gefüllten Beutel, was zu zahlen war und ein wenig mehr, und ging. Sie erreichte den Hohlweg, der sie nach Hause führen sollte. Sie kam da nie mehr an.

Ein Kreuz, sehr massiv, das Stärke und Präsenz zeigt, setzten im gleichen Jahr die erschütterten Bewohner der Bauerschaft Tilbeck. „Für Mersche“. Zwei Räuber raubten sie aus, erschlugen sie. Für ein paar kleine Münzen. Nägel wären der pralle Inhalt des vermeintlich reichen Geldbeutels gewesen, auf den sich die blanke Gier gerichtet hatte.

Der traurige Mord des Jahres 1164 geschah zwischen Tilbeck und Schapdetten, am Rande der Baumberge. Hier startet der etwa 30 Kilometer lange „Baumberger Ludgerusweg“. Das beindruckende Kreuz, das 600 Jahre später renoviert wurde (1764)  steht heute unter Denkmalschutz und ist ein bemerkenswertes Mahnmal.

Obige Geschichte ist nach Sinn und  Vorstellung des Verfassers erzählt. Eine historische Rekonstruktion dieser traurigen Geschichte  aus dem Jahre 1164 wäre im Detail wünschenswert, bleibt aber unmöglich.

Mordkreuz von Tilbeck

Hohlweg in den Baumbergen. Hier wurde Mersche Opfer gieriger Räuber